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Der Narr, die Kastanie und der Alb

(2005)

Es war einmal ein Junge. Ein Junge, wie die Kinder einst waren. Er kletterte auf Bäume, baute im nahen Bach Staudämme, fing mit den Händen Kaulquappen und bastelte Geheimverstecke mit seinen Freunden. War er allein, so ging er in den Wald, lauschte den Vögeln, sprach mit den Zwergen und Alben, hörte den Bäumen zu und genoss die Worte der Natur. Aus dem Jungen wurde ein stattlicher junger Mann, den es hinfort zog, um in fernen Orten seinem Studium nachzugehen. Später kehrte er in sein Heimatdorf zurück, aus dem unterdessen ein beachtliches Städtchen gewachsen war. Hier wollte er arbeiten und sein Leben geniessen. Die Jahre vergingen. Die ersten grauen Haare des Lebens zierten seine Schläfen, sein Gang war weniger behände, beengt durch die Masse, die der Wohlstand mit sich gebracht hatte. Die Zeiten, in denen er auf seine innere Stimme hörte, mit Zwergen sprach oder durch den Wald tobte, waren längst vorbei. Der dunkle Wald war schon lange einer hochtechnologisierten  Produktionsanlage gewichen und über dem Zwergenfelsen thronte weithin sichtbar der geschäftliche Hauptsitz des Mannes. Eine Bürokaserne - gläsern, modern und mit allen vermeintlichen Vorzügen der Jetzt-Zeit ausgestattet. Dort, wo einst der schmale Bach seine Lieder sang und die Alben lustig über die Steine sprangen, wuchs ein Metallzaun aus der Erde, geschmückt mit Bewegungsmeldern, Halogenstrahlern und Kameras. Das einzig Lebendige schien das große Tor zu sein, welches morgens - von Sicherheitsdiensten bewacht - weit geöffnet stand, mittags erneut aufbrach, um sich am Abend für die Nacht gänzlich zu schliessen. Am Rande dieser Umzäunung waren eine Handvoll Bäume übrig geblieben, als Begrünung, wie es in der städtischen Planung festgehalten worden war. Vor ihnen lag der Rest der großen Wiese. Eine Frischluftschneise für das angrenzende Wohngebiet, daher mit einem Bau-Stop vermeintlich geschützt. Nach der Lektüre der aktuellen Wirtschaftsmeldungen verließ der Mann nachdenklich sein industrialisiertes Schloss. Es war das erste Mal seit seiner Jugend, dass er den Weg zu den Stätten der Kindertage einschlug. Der späte Mittagstau des Grases stürzte sich scheinbar gefräßig auf seine Lederschuhe und die Insekten wichen erschrocken zurück. Der Mann bemerkte das nicht. Er spürte auch nicht, dass die Vögel verstummten. Er setzte sich unter eine große Kastanie, die am Rande des Gewerbegebietes stolz den Einhausungen trotzte, lehnte sich gegen ihren Stamm und sinnierte. Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. "Was machst Du hier?" fragte der kleine Alb, der sich aufmüpfig vor ihn gestellt hatte. "Ich denke. Doch was machst Du hier? Was bist Du überhaupt," fragte der Mann. "Ich bin ein Alb. Das weißt Du doch..." Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf. "Ein Alb? Nein. Ich habe viele Jahre studiert. In keinem meiner Projektmanagement-Kurse, auch nicht im Wirtschaftsstudium oder im IT-Unterricht hörte ich von Alben. Ich bin ein kluger und erfolgreicher Mann - so etwas wie Dich gibt es nicht." Erstaunt blickte der kleine Alb an sich hinunter, sah zur Kastanie auf, betrachtete seinen feinen Körper und meinte: "Doch, ich lebe. Aber Du, fremder Mann, Du scheinst nicht zu leben." "So ein Unsinn," meinte der Mann forsch. "Natürlich lebe ich. Ich lebe sogar sehr gut. Meine viergeschossige Villa wird von fünf Hausangestellten in Schuss gehalten. Meine drei Söhne sind auf den besten Internaten des Landes und meine Frau ist eine angesehene Person der Gesellschaft. Vier Autos stehen in unserer elektronisch geschützten Garage und um den Englischen Rasen unserer hauseigenen Parkanlage beneidet mich so mancher Nachbar." "Welche Bäume leben in Deinem Garten?" so fragte plötzlich mit tiefer Stimme die Kastanie. "Ich weiss es nicht," antwortete der Mann. "Ich müsste meinen Gärtner fragen." "Und Deine Söhne, wann spielen sie in diesem schönen großen Park?" Der Mann schlug die Hände über dem Kopf zusammen: "Niemals - der gute Rasen..." "Wenn Du doch aber alles hast, warum gehst Du dann traurig in den Wald," wunderte sich der Alb und legte sein Gesicht in Falten. "Ich habe Existenzangst," so gestand der Mann. Die Kastanie schüttelte ihre Blätter, so musste sie schmunzeln und auch der Alb runzelte nur die Stirn. "Nein. Du hast keine Existenzangst." "Und ob ich die habe. Die Aktienkurse schwanken mehr denn je, die Arbeitskräfte kosten mich mein letztes Geld und mit den Auflagen und Normen werde ich die Anlage ohne Erweiterungen und Neuerungen nicht halten können. Ich weiß nicht, wie viele Leute ich entlassen muss, damit ich das alles bezahlen kann." "Du hast keine Existenzangst," wiederholte der Alb und der Mann wurde böse. "Was weißt Du denn davon, Dich gibt es doch gar nicht," meinte er zornig. Die Kastanie brummte mürrisch über seinem Kopf, doch zeigte sie sich geduldig: "Mensch - Du hast keine Existenzangst, denn Dein Leben ist nicht in Gefahr. Vielleicht ist Deine Existenz bedroht -  nicht aber Dein Leben. Es ist Deine Existenz, über die Du Dich definierst. Dein Haben, Dein Haus, Dein Geld. Doch was machst Du damit? Ein Garten, in dem keine Kinder spielen, ist ein trauriger Garten. Und ein Baum mit dem niemand spricht, ist ein unglücklicher Baum. Du bist ein unglücklicher Mensch, doch niemand bedroht Dein Leben. Du bist unglücklich, weil Du vergessen hast, was Leben bedeutet. Du existierst, doch lebst du nicht mehr. Verwirrt bist Du, verwechselst das Sein mit Besitz. Das alles." Der Mann blickte erstaunt auf, doch konnte er den Worten der Kastanie nicht folgen. So eilte der Alb dem Baum milde zur Hilfe: "Du wandelst mit dem Menschenstrom in die falsche Richtung. Die Erdenbewohner haben vergessen zu leben. Sie existieren nur noch, um ihre Existenz, ihren Besitz zu mehren, aufrecht zu erhalten. Sie leben für ihren Besitz, statt dank ihres Besitzes zu leben." Wortlos erhob sich der Mann vom feuchten Boden und ging. Am nächsten Morgen rief er seinen Gärtner zu sich. Er fragte nach dem Wert einer Kastanie, nach Wuchs, nach Alter und gab ihm einen Auftrag. "Ich habe Dich zu meinem Berater gemacht," erklärte der Mann nach weiteren drei Tagen wohlwollend und durchschritt mächtig sein Büro. Zufrieden - und nicht ohne Stolz - blickte er auf die Kastanie. Brav hatte der Gärtner seine Arbeit getan: Gefällt, geschreinert und zum Tisch verarbeitet. Doch die Kastanie sprach nicht mehr mit dem Mann. Gebürstet und geölt weilte in ihr kein Leben mehr.  Als der Mann Konkurs anmeldete und sich das Tor hinter der Hundertschaft zukünftiger Arbeitsloser für immer schloss, saß der kleine Alb zwischen den letzten, traurigen Bäumen. Seine Tränen bemerkte niemand, doch zugleich huschte auch ein Lächeln über sein Gesicht. Es war das Lächeln der Gewissheit.  Die Jahre zogen ins Land. Eines Tages trieb es den Mann in den Vorort der Stadt. Sein Chauffeur ließ ihn aussteigen. Langsam schritt er auf den einstigen Eingang zu, drehte seine Richtung und wanderte zum Baumstumpf, der bemoost an das vergessene Gespräch erinnerte. Als er den Alb unter der großen Linde entdeckte, hielt er inne und blickte auf den Kleinen herab. "Siehst Du, Narr, wir leben. Doch Du existierst nur noch, " sagte der Alb und blickte mit dem Lächeln der Gewissheit auf die ehemalige Industrieanlage, mit ihrem Storchennest auf dem Schornstein, den berankten Gittern und der besummten Wildwiese dahinter.